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Endlich Sonne – und schon wieder liegt einer vorm Zug :-( 24. Juni 2010

Posted by DL2MCD in Nervensägen.
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Ich fotografiere Bahnhöfe nicht nur, ich benutze sie auch. Täglich. Schließlich bin ich morgens um 6, wenn ich losfahren muß, viel zu müde zum Autofahren, und abends nach der Arbeit erst recht. Und es gibt Tolleres, als täglich 200 km Auto fahren zu müssen, wie es in meinem letzten Job im Industriegebiet weitab von öffentlichen verkehrsmitteln nicht zu umgehen war. Von der Umwelt und den Benzinpreisen ganz abgesehen.

Leider nimmt allerdings nicht jeder den Zug durch die Seitentüre, so wie ich. Manche nehmen ihn lieber von vorn. Das dann zwar nur einmal, aber mit duchschlagendem Erfolg: Einer tot, einer traumatisiert, Hunderte bekommen Ärger mit dem Chef.

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Ja, ich weiß, es ist politisch völlig inkorrekt, sich über Selbstmörder auch noch aufzuregen. So sehr sonst jeder in dieser Gesellschaft Verständnis und Mitgefühl für die armen Täter hat, und nur wenige für deren Opfer, so hat man es plötzlich hier. Nein, eigentlich nur Mitleid, nicht Verständnis.

Ja, ich finde es auch schlimm, wenn jemand so verzweifelt ist, daß er sich umbringt. Egal, ob er vorher ein netter Mensch war oder eher nicht. Aber ebenso, wie mein Mitleid deutlich nachläßt, wenn er dazu Amok läuft und noch ein paar Unbeteiligte und Unschuldige mitnimmt oder zumindest traumatisiert, so kann ich es nicht entschuldigen, wenn sich jemand dazu vor den Zug wirft.

  1. Der Zugführer ist danach traumatisiert und berufsunfähig.
  2. Es steigen noch mehr Leute entnervt aufs Auto um und gefährden Leben – durch das Fahren selbst und die Umweltschäden.
  3. Es kommen Hunderte zu spät in die Arbeit, bekommen Ärger, sind dann eines Tages, wenn sie ihren Job verlieren, selbst so weit, den Zug von vorn zu nehmen.

Ich weiß, es klingt zynisch, wenn ich der Ansicht bin, man solle doch bitte für die Reise ins Jenseits nicht den Zug nehmen. Oh nein, sowas darf man nicht sagen, nicht mal denken. Aber wer das Theater alle paar Wochen wieder und wieder erlebt, der hat einfach die Schnauze voll. Denn nach jedem Selbstmord ist die Strecke erstmal zwei Stunden komplett dicht:

  1. Es muß geklärt werden, ob es Selbstmord war oder Unfall oder gar Mord.
  2. Der (nun nicht mehr) Unglückliche muß von den Schienen und vom Zug gekratzt sowie in einen Sarg gepackt und abtransportiert werden.
  3. Es muß geklärt werden, ob der Zug noch verkehrssicher ist oder zu beschädigt, um weiter Passagiere zu befördern.
  4. Es muß ein Zugführer aus dem Urlaub geholt werden, um den Unglückszug wegzufahren – der ursprüngliche Zugführer ist jetzt erstmal (und meist dauerhaft) ein Fall für den Psychiater.
  5. Auch wenn die Bahnstrecke zweigleisig ist, ist sie schon aus Sicherheitsgründen komplett zu sperren – man will ja nicht noch mehr Tote!

All das dauert üblicherweise zwei Stunden. Schneller geht es einfach nicht.

Damit solche Vorkommnisse nicht auch noch jede Menge Nachahmer („Mir langts, ihr hört morgen von mir im Verkehsfunk!!“) auf den Plan ruft, werden solche Vorkommnisse stets heruntergespielt und darüber auch nicht in der Zeitung berichtet. Es ist so schon schlimm genug.

Nur mal als Beispiel, wie das heute ablief:

  • Man steht um 4.30 auf, fährt um 5.20 zum Bahnhof
  • Sitzt um 5.30 im Zug, schläft nach der Fahrkartenkontrolle ein
  • Um 6 Uhr tutet es plötzlich aus den Lautsprechern, alles wacht auf, der Zug wird langsam und bleibt außerplanmäßig im S-Bahnhof Grafrath stehen.
  • Der Schaffner verkündet, es läge vermutlich ein Personenschaden auf der Strecke vor. Man werde wohl auf der Strecke noch ein Stück bis Buchenau „aufrücken“ dürfen, aber vielleicht auch nicht.
  • Um 6.15 verkündet der Schaffner, die S-Bahn gegenüber dürfe zuerst aufrücken, und wer es eilig habe, solle doch ganz schnell umsteigen. Eilig hat man es zwar, aber wozu länger in Buchenau in der Kälte stehen, wenn man doch noch im warmen Zug sitzt?
  • Um 6.30 darf auch der Zug „aufrücken“, bis zum S-Bahnhof Buchenau. Dort ist dann um 6.40 Endstation, wer nun seinen Termin bereits verpaßt hat, darf auch um 7.15 wieder zurückfahren.
  • Der Schaffner spricht relativ offen (meist versucht man auch hier, von „Notarzteinsatz“ und „Personenschaden“ zu reden). Er sagt, man werde Großraumtaxis bestellen, da zur Rushhour keine zusätzlichen Busse für den „Schienenersatzverkehr“ zur Verfügung stehen. Aber man wisse, daß das oft nicht klappe und hoffe, es erscheine nicht nur der Linienbus.
  • Alles steigt aus und versammelt sich im kalten Frühnebel auf dem Bahnhofsvorplatz – wo schon die Leute der vorherigen S-Bahn stehen und auf die „Großraumtaxis“ warten.
  • Ich mache die zwei Fotos und gehe etwas spazieren, da hier sowieso keine Besserung in Sicht ist.
  • Ich finde 200 m hinter dem Bahnhof eine Bushaltestelle, an der alle Stunde ein Lokalbus erscheinen soll. So bald aber nicht. Ich setze mich. besser da zu sitzen, als vorne zu stehen.
  • Um 6.40 erscheint ein „Kleinraumtaxi“ und fährt vor zur wartenden Menge. Ich bezweifle, daß der, der es bestellt hatte, es auch tatsächlich nutzen konnte.
  • Um 6.50 erscheint plötzlich ein einsamer kleiner Linienbus Buchenau – Fürstenfeldbruck. Ich ersehe darin zwar keinen großen Nutzen, da in solchen Fällen meist die ganze Bahnstrecke bis München gesperrt ist, aber wenn der Bus schon vor meiner Nase hält und bevor ich weiter in der Kälte sitze…
  • Dasselbe denken sich nun die etwa 200 m entferten Wartenden. Sie stürmen los. Der Busfahrer erschickt. Jetzt wird es gemütlich im Bus.
  • Es strömen Leute in den Bus, bis nichts mehr geht. Eine Dame plumpst mir auf den Schoß. Nein, nicht jung, blond und zierlich. Das ist hier kein Roman.
  • Damit der Bus nicht platzt, schließt der Fahrer die Türen und fährt los. Etwa die zehnfache Menge Leute steht noch draußen.
  • Unterwegs sehe ich durch immer mehr beschlagende Scheiben draußen immer wieder Menschen, die an ihrer Haltestelle stehen und feststellen müssen, daß sie umsonst warten, weil dieser Bus leider sein Fassungsvermögen bereits zu 330% erreicht hat.
  • Mein Sitznachbar meint, Bahnhof Fürstenfeldbruck sei ok, da die Strecke ab dort wieder befahrbar sei.
  • Die eine Station von Buchenau nach FFB kann vielleicht dauern, man glaubt es nicht. Aber so ein Bus muß seine Route fahren, auch wenn er niemand mehr mitnehmen kann.
  • Irgendwann will mal einer von der Handvoll Leute an „seiner“ Haltestelle aussteigen, die in Buchenau schon im Bus saßen und nicht ahnten, was ihnen blüht. Dummerweise hat er auch noch eine große Sporttasche dabei. Der Busfahrer schimpft über dieses Ansinnen wie ein Rohrspatz, er fahre nur zum Bahnhof und das sei hier doch keine Stadtrundfahrt. Dabei ist es doch genau das: Er hat jede Haltestelle des Fahrplans angefahren, nur konnte halt niemand einsteigen. Aber er will ja nicht später Ärger haben von Leuten, die sagen können, ihr Bus sei nicht gekommen.
  • In Fürstenfeldbruck stellt man fest, daß ein eben noch leerer Bahnsteig von diesem einen Büslein doch ganz gut wieder voll wird.
  • Allerdings fährt auch da kein Zug. Dazu müßte ja erstmal einer da sein. Die nächsten zwei angezeigten Züge fallen daher aus, in einer halben Stunde wird mit einer S-Bahn gerechnet.
  • Irgendwann kommt unerwartet doch ein Zug aus München Richtung Buchenau. Nach dem inzwischen bekannten Motto „man nimmt, was kommt“, setzt man sich erstmal rein.
  • 7.30 fährt dieser auch tatsächlich nach München
  • 8.30, grad drei Stunden seit der Abfahrt, bin ich auch schon im Büro.

Und das ist die Luxusversion: Ich hatte immer einen Sitzplatz (die meisten nicht), es ging fast ohne Umwege (die Stadtrundfahrt in FFB mal außen vor gelassen), und ich hatte die schnellstmögliche Verbindung. Ich denke, viele standen auch um 8.30 noch in Buchenau.

Ich könnte jetzt 10 Fälle schildern, wo das viel schlimmer lief. Inklusive des Tages, wo in München auf der S-Bahn-Strecke dann gleich nochmal einer vorm Zug lag.

Trotzdem alles nichts gegen die viel häufigeren Auto-Staus.

Es geht auch nicht darum. Die Bahnleute tun ja, was sie können. Mal eben ganz schnell zehn Ersatzbusse herzaubern, wenn eine Strecke im Berufsverkehr ausfällt, können sie halt nicht.

Aber wenn mir jetzt jemand kommt und um Verständnis für den armen Selbstmörder bittet: Nö! Wozu auch? Das hätte der vorher gebraucht. Jetzt bringt es ihm auch nix mehr. Und sich vor den Zug zu schmeißen, stellt nur sicher, daß sich zwar viele Leute über einen ärgern werden, aber niemand über einen trauern.

Kommentare»

1. Jens der andere - 24. Juni 2010

Gut gebrüllt!

Mir ist vollkommen unklar, was Leute dazu treibt, sich so egozentrisch das Leben zu nehmen.
Wenn man dann noch bekannter Sportler ist („Ein Vorbild für die Jugend!“), gibt es noch eine öffentliche Trauerfeier?

Wenn man schon in einem Maße versagt, daß man seinem Leben ein Ende setzen muß, warum müssen dann unbeteiligte darunter leiden? Warum werfen sich Menschen vor Züge oder springen von Häusern?
Damit sie „mal“ jemand sind? Bei diesen Methoden geht es nicht um den Selbstmordversuch als „Hilfeschrei“ (meist emotionale Erpressung), hier geht es darum, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Ja, diese Leute sind Täter. Keine Opfer.

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2. rr - 24. Juni 2010

Ich finde die Beleuchtung solcher Ereignisse als reine Täterschaft etwas zu einseitig.
Wenn man als Wartender betroffen ist, bekommt man schnell eine eine einseitige, dominante
und gefühlsbetonte Sichtweise auf das Thema.

Anders ist die Sichtweise auf das gleiche Ereignis für die Menschen, die den Selbstgemordeten
kannten, schätzten, vielleicht auch liebten. In eben diesem Moment, wo die Motivation für die
Tat bekannt ist und die Anonymität des Verursachers verloren geht, gibt es bei der Bewertung
der Tat mit einem Mal andere Faktoren.

In Anbetracht des Geschehens, dass ein anderer Mensch derart verzweifelt, oder schlicht so krank ist,
dass er zu einer derart drastischen Tat getrieben wird, erscheint mir ein Zu spät kommen und auf dem
Bahnhof sitzen zwar als unangenehm, dennoch nicht als etwas, wofür man sämtliches Verständnis über Bord werfen müsste.

Weshalb die Bahn als probates Mittel zur Selbsttötung ausgewählt wird, kann ich als gesunder, lebensfroher
Mensch ebenfalls nicht nachvollziehen. Mir würde vermutlich Gift am ehesten zusagen, aber das erfordert eine
gewisse Vorbereitsungszeit und Kenntnis. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist nicht etwa das man
sich nicht aufregen darf, oder es in Ordnung sei andere mit seinem eigenen Unglück in Mitleidenschaft zu ziehen,
sondern viel mehr die verschiedenen Sichtweisen, die alle ihre Daseinsberechtigung haben und vor allem zu
Beachtenswert sind, um nur einer einzigen den Vorzug zu geben. Ein „diese Leute sind Täter. Keine Opfer“ ist mir da
viel zu plump und es ist auch unrichtig, denn selbstverständlich sind diese Menschen auch Opfer.

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3. DL2MCD - 24. Juni 2010

rr, das ist doch völlig klar, daß man das anders sieht, wenn man denjenigen kennt.

Ein Suizid ist nie schön, auch wenn ich ihn in manchen Fällen z.B. Gravenreuth als das kleinere Übel sehe gegenüber einem Amoklauf. Ansich sollte man aber Leute davor bewahren, in eine so verzweifelte Lage zu kommen.

Es geht auch nicht darum, sich als Wartender „Luft“ zu machen. Da bin ich bislang noch gut davongekommen, eine 3wöchige Grippe bei sowas im Winter war noch das Unangenehmste (Ursache: Dann in einem überfüllten Zug voller niesender Leute zu sitzen).

Es geht einfach darum, daß jemand, der sich vor den Zug wirft, unzähligen ihm Unbekannten Leid antut. Nicht nur denen, die deshalb vielleicht aus dem Job fliegen, sondern eben auch den Polizisten, Sanitätern, dem Fahrer, die – ums salopp zu sagen – die Schweinerei aufräumen müssen.

Und das sind alles nicht die Leute, die denjenigen vielleicht in diese Lage gebracht haben und an denen er sich eventuell wirklich rächen wollte.

Darüber sollte jeder nachdenken. Wenn man wirklich keinen Ausweg sieht, dann muß es ja nicht grad so sein.

Und glaub mir, ich hab das auch schon erlebt. Eine jahrzehntelange Freunin hat sich im Treppenhaus ihres Hauses erhängt, weil sie jemand übel betrogen hatte (es ging „nur“ um Geld, aber ihr gesamtes Erbe von etwa 100.000,- – für sie war das eine Katatstrophe).

Mich erreichte sie damals nicht, weil ich umgezogen war und man mir meine Website verboten hatte, auf der ich die neue Adresse und Telefonnummer angegeben hatte. Klar, die Auskunft hätte auch geholfen, aber so logisch dachte sie nicht mehr. Die Leute, die daran schuld waren, daß meine Website abgeschaltet war, meinten dazu nur, das mache ihre Marke wertvoller.

Sich zuhause aufzuhängen ist sicher schon wesentlich „rücksichtsvoller“ als sich vor den Zug zu werfen. Doch auch so waren die Mitbewohner so traumatisiert, daß sie aus- und wegzogen und die Polizisten sich vor Ort übergeben mußten.

Und so oder so werden stets die traumatisiert sein, die den Toten kannten. Vond aher ist so etwas nie „nett“. Selbst wenn derjenige denkt, es werde ihn keiner vermissen, so ist dem eigentlich nie so.

Um die „Schuldzuweisung“ geht es hier gar nicht – sondern darum, daß den meisten Menschen gar nicht klar ist, was passiert, wenn sich jemand vor einen Zug wirft.

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4. limone - 24. Juni 2010

die traumatisierten zugführer sind auch immer das erste, was mir einfällt… wenn man schon mit dem leben abschließen muss, dann doch bitte nicht so.

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